Watson: Christian Wück wird keinen vorläufigen, sondern direkt den finalen EM-Kader nominieren. Ist das die richtige Entscheidung?
Kathrin Lehmann: Es ist eine sehr gute Entscheidung. Es waren drei unfassbar lange Jahre für die Nationalspielerinnen: WM, Olympia und jetzt kommt die EM. Wenn ich als Spielerin im vorläufigen Kader stehe, muss ich noch einmal Gas geben, um es in den finalen Kader zu schaffen. Dann fehlen mir hinten heraus aber die Körner. So nimmt der Bundestrainer den emotionalen Druck weg, die Spielerinnen können etwas entspannen und Energie tanken. Die Mannschaft gewinnt Ruhe und Zeit.
Martina Voss-Tecklenburg nominierte im Vorlauf der WM 2023 28 Profis, ließ sich mit dem Streichen viel Zeit und handelte sich damit den Unmut der Spielerinnen ein.
Ich finde es schwierig, ein Turnier, das nicht gut gelaufen ist, nur in der Rückbetrachtung zu bewerten. Ein Turnier ist wie ein Leben in vier Wochen: Geburt, Pubertät, erste Liebe, Schicksal und am Ende steht die Hochzeit oder der Tod. Jedes Turnier hat seine eigene Geschichte, du kannst keines mit einem anderen vergleichen. Christian Wück kommuniziert seinen Ansatz jetzt klar und steht dazu, das ist gut und wichtig.
Die Kaderverkündung wird Klarheit bei Lena Oberdorf bringen. Kannst du nachvollziehen, dass Wück noch auf sie hofft?
Ich kann es emotional nachvollziehen, um ihr die Motivation zu geben. Aber klar ist: Es wird nicht reichen.
Ist bei ihr die Ausfallzeit schlichtweg zu lang gewesen?
Diese EM wird der neue europäische Standard des Frauenfußballs, das wird an Schnelligkeit kaum zu übertreffen sein. Da wird Lena Oberdorf, die eine sehr physische Spielerin ist, nicht direkt wieder mithalten können. Dazu kommt auch ein neuer Trainer – wir haben gesehen, wie schwierig die Adaption einer neuen Denkweise sein kann.
Riskiert der DFB mit seiner öffentlichen Kommunikation nicht einen Konflikt mit dem FC Bayern?
Man könnte sich das sparen, aber dann wäre es auch ein bisschen langweilig. Ich denke ohnehin, dass der FC Bayern es nicht zulassen wird. Und Lena Oberdorf wird trotzdem noch fünf oder sechs große Turniere für Deutschland spielen.
Oberdorf gilt nicht nur als Fußballerin mit Weltformat, sondern auch als Leaderin. Welche Spielerinnen werden an ihrer Stelle bei der EM in diese Rollen schlüpfen?
Wenn es eine Spielerin gibt, die sich aktuell nicht verletzen darf, dann ist es Elisa Senß. Sie ist die Entdeckung der vergangenen zwölf Monate und wird der Liebling der Nation. Mit großer Willenskraft und Intelligenz hält sie die Defensive und die Offensive zusammen. Linda Dallmann und Sara Däbritz stehen für eine Menge Ruhe und Erfahrung, werden dem Team so auch helfen.
Und Kapitänin Giulia Gwinn?
Giulia Gwinn wird eine souveräne EM spielen. Sie muss als der Star der Mannschaft vor allem medial vieles abfangen.
Gwinn ist in der Viererkette gesetzt, ansonsten musste Wück in der anfälligen Abwehr bisher aber viel rotieren. Wer läuft an der Seite der Kapitänin auf?
Im Zentrum würde ich auf Minge und Kleinherne setzen. Kleinherne wird unterschätzt, sie verteidigt sehr clever. Links wird es schwierig, ich tendiere zu Kett. Wenn alle gleich gut verteidigen, muss man es von der Offensive her denken: Wer kann Bühl am besten in Szene setzen? Das ist aufgrund der Physis sowie der offensiven Denkweise Kett. Sie hat vielleicht defensiv noch Potenzial, aber Bühl kann durch Ketts Spielweise ihre Aktionen 15 Meter weiter vorne beginnen.
Unterstützung wird es also aus dem Mittelfeld brauchen. Im Zentrum gibt es in Wücks präferierter 4-2-3-1-Formation noch zwei offene Planstellen. Wer sind die perfekten Ergänzungen zu Senß?
Nüsken ist eine Option, sie gefällt mir in Kombination mit Freigang aber nicht. Die beiden neutralisieren sich. Nüsken gefällt mir zurückgezogen etwas besser. Freigang ist eine fantastische Fußballerin, blieb ihre Leistung zuletzt aber etwas schuldig. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auf das Trio Senß, Nüsken und Dallmann hinausläuft.
Damit würden einige große Namen draußen bleiben.
Deutschland hat in jedem Fall unterschiedliche Charaktere für die Mitte: Däbritz und Lohmann können die Dynamik verändern. Du wirst nicht alles über Tiefenläufe von Bühl und Brand lösen können, daher ist es gut, die Denkweise in der Mitte verändern zu können.
Im Sturmzentrum ist Lea Schüller gesetzt, dahinter aber herrscht ein spannender Konkurrenzkampf. Wer hat einen Kaderplatz sicher?
Cerci kann als einzige auch Bühls Position bekleiden und ist daher dabei. Dazu nimmt Wück vielleicht auch Zicai als Youngster mit.
Und im Sturmzentrum?
Ich würde Anyomi mitnehmen, sie bringt ein Element wie einst Odonkor bei der WM 2006 mit: Schnelligkeit, einfach mal machen, Freistöße ziehen, sie ist immer unberechenbar. Und sie liefert auch ab, hat 14 Tore sowie neun Vorlagen in der Bundesliga.
Und trotzdem hat sie seit Oktober 2024 nicht mehr fürs DFB-Team gespielt, stattdessen hat Leipzigs Giovanna Hoffmann die Nase vorn.
Der Typ Hoffmann ist das, was Wück als Stürmerin cool findet: Vorne im Zentrum lauern, Bälle abnehmen, ablegen und am Ende mit dem Bauchnabel reindrücken. Das ist ein anderes Element. Anyomi kann noch so viel Werbung für sich machen, wenn Wück einen anderen Typ Stürmerin bevorzugt. Ich finde es gut und mutig von Wück, wenn er für sich für eine bestimmte Art Stürmerin entscheidet. Wück weiß auch, dass ihm die Entscheidung um die Ohren fliegt, falls er Anyomi nicht mitnimmt und es nicht gutgeht.
Du hast ein Turnier eingangs mit dem Leben verglichen. Welchen Lebensabschnitt werden die DFB-Frauen in der Schweiz erreichen?
Sie werden am 27. Juli eine Hochzeit in Basel feiern.